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Literatur
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Unsichtbare Schrift

Florian Cramer

16.4.2004

In meinem Beitrag geht es nicht um Geheimtinten, die Schrift zwar temporär unsichtbar machen, sie aber über den Umweg eines chemischen Prozesses für die visuellen Wahrnehmung formatieren und somit Sichtbarkeit ex negativo herstellen. Vielmehr möchte ich die Prämisse, daß Schrift sich durch Sichtbarkeit definiere, insgesamt hinterfragen. Der ersten Absatz des Konferenz-Exposés formuliert sie wie folgt:

Als das zentrale Paradoxon der Schrift könnte man ihre Sichtbarkeit bezeichnen. Ist diese zum einen unhintergehbare Bedingung dafür, dass Schrift überhaupt wahrgenommen, gelesen wird, so erweist sich doch gerade die Sichtbarkeit in ihrer materiellen Dichte als Resistenzphänomen ihrer restlosen Einspeisung in Programme des Codierens und Decodierens.
Jorge Luis Borges' Kurzgeschichte ,,Der Garten der Pfade, die sich verzweigen`` ist berühmt für ihre fiktiven Entwürfe erzählerischer Rekursionen1 und Labyrinthe, konterkariert diese aber durch einen linearen Kriminal-Plot von einer geheimdienstlichen Informationsübermittlung im ersten Weltkrieg: Der chinesisch-deutsche Agent Yu Tsun ermordet in einem Akt scheinbarer Sinnlosigkeit den ihm unbekannten Sinologen Stephen Albert, um den deutschen Geheimdienst den Ort einer britischen Artilleriestellung wissen zu lassen, eine französische Stadt namens ,,Albert``.2 In der Ermordung Alberts verkehren sich Signifikant und Signifikat: Sein Name steht nicht mehr für die Person, sondern die Person steht für den Namen ein. Der tote Körper wird zum Schriftzeichen, der Pistolenschuß zu seinem Schreibakt. Dieses Zeichen ist indexikalisch, da es eine Spur ist statt einer symbolischen Inschrift wie einer Tätowierung. Nur verweist es, im Gegensatz zu einem klassischen Indexzeichen, wie dem Rauch als Index von Feuer, nicht auf einen Körper oder eine Materie, sondern auf ein Symbolisches, nämlich die Buchstabenfolge A-l-b-e-r-t. Zwar wird in der Erzählung die Schrift des toten Körpers letztlich wieder in eine klassische Typographie, ein Graphem, umcodiert, wenn der deutsche Geheimdienst den Namen aus britischen Zeitungsmeldungen erfährt. Wäre die Nachricht aber zum Beispiel auf fernmündliche Weise übertragen worden, bliebe nur die Leiche als ein Schriftzeichen, dessen Medium nicht eindeutig bestimmbar ist. Denn was ist der Signifikant des toten Körpers, der auf das Signifikat seines Namens Älbert" verweist: der Anblick der Leiche, oder, falls jemand den Pistolenschuß gehört hätte, die Akustik der Tötung, falls ein Arzt den Puls fühlt, die Haptik der Leiche, oder, falls sie verwest, ihr Geruch?

Im Schreibakt des Pistolenschusses reflektiert sich die Etymologie von ,,graphein`` und ,,scribere`` als physische Einritzung und Einkerbung, in der Leiche der Zeichenträger als ,,corpus``. Nicht nur Sichtbarkeit, sondern auch Haptik und Motorik gehört somit zu den historischen Attributen der Schrift. Kafkas Erzählung ,,In der Strafkolonie`` imaginiert eine Schrift, die zwar typographisch bleibt, durch ihre radikal körperliche Einschreibung jedoch nicht mehr visuell wahrgenommen wird. Der Offizier und Maschinist des Exekutionsapparats erläutert dies dem Reisenden wie folgt:

Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung. Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht. Dann ist das Gericht zu Ende, und wir, ich und der Soldat, scharren ihn ein.3

Entscheidend ist, daß die Schrift nicht bloß metaphorisch entziffert wird, sondern buchstäblich, der Mann das Gebot ,,Ehre deinen Vorgesetzten!`` nicht nur als körperliche Unterwerfung und Vernichtung erfährt, sondern Buchstabe für Buchstabe typographisch entziffert, und das, obwohl die Schrift an die Grenze ihrer Lesbarkeit getrieben ist : ,,Es darf natürlich keine einfache Schrift sein``, erklärt Kafkas Offizier; ,,sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden; für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet. Es müssen also viele, viele Zieraten die eigentliche Schrift umgeben; die wirkliche Schrift umzieht den Leib nur in einem schmalen Gürtel; der übrige Körper ist für Verzierungen bestimmt.``

Auch diese arabeske (und groteske) Schrift erfüllt noch Nelson Goodmans formale Bestimmung der Schrift als disjunktem und differenziertem Symbolsystem, oder, anders ausgedrückt, von Schrift als (im strengen mathematisch-kryptographischen Sinne) codierten Zeichen. Die typographische Arabeske bildet den Grenzfall einer Schrift, die aus sich selbst herausstrebt und an der Schwelle zum nicht mehr disjunkten und differenzierten Bild ästhetische und poetische Komplexität gewinnt. In ihr zeichnet sich somit die ,,maniera`` und der ,,stilus`` ab, also Manier und Stil im Wortsinne der individuellen Schreibgeste und -technik. Wie die unsichtbare Tinte in ihrem dialektischen Verhältnis zum sichtbaren Buchstaben, ist sie eine Regelüberschreitung, die ex negativo die Norm der Schrift als ein durch Alphabet, Setzkasten, ASCII und Unicode gerastertes System bestätigt. In der Schwellenunschärfe von alphanumerischer Codierung und uncodierter Linienführung, wie z.B. in Kalligraphie, Figurendichtung und bei Künstlern wie Cy Twombly, existiert Schrift immer nur in Referenz auf ihre codierte Lesbarkeit, weil sie sonst gar nicht mehr als Schrift wahrnehmbar wäre. Dem Exposé dieser Konferenz zufolge ,,erweist sich doch gerade die Sichtbarkeit in ihrer materiellen Dichte als Resistenzphänomen ihrer restlosen Einspeisung in Programme des Codierens und Decodierens``; doch beschreibt der Begriff der Sichtbarkeit bzw. Schriftbildlichkeit diese Resistenz eben nicht erschöpfend, wenn Schrift, wie bei Kafka und Borges, Körper tödlich durchdringt.

Nicht nur in der Fiktion lassen sich Beispiele solcher Überschreitungen des Sichtbaren der Schrift finden. Der amerikanische Experimentalfilmer und Performer tENTATIVELY, a cONVENIENCE trägt auf seinem rechten Oberschenkel eine Schrift als eine sich physisch selbst erfüllende Prophezeiung: der genetischen Code einer Krebszelle ist in phosphoreszierender, radioaktiver Farbe in die Haut tätowiert. Eben nicht als Fiktion, sondern als Faktum rekonstruiert der amerikanische Germanist Gareth Penn in seinem Buch ,,Times 17`` eine Einschreibung durch Tötungen. Die bis heute unaufgeklärten Serienmorde des sogenannten Zodiac-Killers im Kalifornien der späten 1960er Jahre seien, wie er in einer akribischen philologisch-kryptologischen Untersuchung zu beweisen versucht, das Werk eines kabbalistischen Land Art-Künstlers gewesen, der mittels der Uhrzeiten und geographischen Koordinaten der Morde seine Initialen MOH (Michael O'Hare) kryptographisch eingeschrieben habe. Penns Nachforschungen rufen schließlich den Zodiac-Mörder auf den Plan und enden in einem Schachduell der beiden, das fernschriftlich über Telefonklingel-Codes ausgetragen wird.

Die Codierung, ohne die es Schrift nicht gibt, muß also nicht visuell sein. Die bekanntesten Beispiele dafür sind Telegraphie (wörtlich: Tele-Schrift, im der Elektrizität und der Mechanik), Morseschrift und Blindenschrift auf Braille-Zeilen, oder auch das Blindschreiben auf einer Schreibmaschinen- oder Computertastatur. Wenn Schrift sich dadurch definiert, daß sie codiert ist, so ist sie per Implikation auch transkodierbar, was es zum Beispiel historisch erlaubt hat, Homers Epen von mündlicher Rede auf Handschrift, von Handschrift auf Buchdruck und vom Buchdruck auf Computerdateien umzustellen. Die symbolische Universalmaschine Computer internalisiert Codierung und Transcodierung als Operationsprinzip schlechthin. Dies veranschaulichen zum Beispiel die Arbeiten des Netzkünstlers Vuc Cosic, dessen bevorzugtes Material Schriftzeichen im 7-bittigen ASCII-Code, also dem amerikanischen Schreibmaschinenalphabet, sind. Gemeinsam mit seiner Künstlergruppe ,,ASCII Art Ensemble`` schreibt er eine ,,ASCII History of Art for the Blind``, in der Kunstwerke u.a. von Duchamp, Malewitsch und Warhol zuerst zu ASCII-Typogrammen digitalisiert werden, um die Buchstaben dann arbiträr auf Bildschirmen oder von Computerstimmen auszugeben; theoretisch könnte, so das ASCII Art-Ensemble-Mitglied Walter von der Cruijsen, der Kreislauf der Recodierung geschlossen und unendlich perpetuiert werden, wenn die Stimme wiederum an eine Spracherkennungs-Software gekoppelt würde.

Cosic und das ASCII Art Ensemble führen einem Kunstpublikum bloß vor Augen und Ohren, was seit 1970 eine Standardfunktion des Computer-Betriebssystem Unix ist sowie seiner neueren Abkömmlinge wie GNU/Linux. Während vermeintlich modernere graphische Betriebssysteme mit ihrer Maus- und Menüsteuerung jede Ein- und Ausgabe fest an jeweils ein spezifisches Medium knüpfen, kennt das klassische Unix nur ASCII-codierte Datenströme, fließende Schriften also, die im Eimerkettenprinzip von Programm zu Programm gereicht werden und abstrakt als ,,Standard-Eingabe``, ,,Standard-Ausgabe`` und ,,Standard-Fehlerausgabe`` definiert sind. Die Standard-Ausgabe kann nach Belieben an eine Bildschirm-Textdarstellung, eine Braille-Zeile, einen Drucker, roh an den Soundchip geschickt oder in eine Datei oder an eine Netzwerkadresse umgelenkt werden.

Folgt daraus, daß Datenströme erst zur Schrift werden, wenn sie über ein Medium sinnlich wahrnehmbar ausgegeben werden? Computerprogrammierer sprechen von diesen Datenströmen als ,,Code``, was insofern irreführend ist, als es die mathematische und semiotische Bedeutung von metonymisch verschiebt: ,,Code`` ist hier nicht mehr definiert wie in Umberto Ecos ,,Einführung in die Semiotik`` als codierendes System bzw. Transformationsregelwerk, sondern als das Produkt der Codierung. Es spricht jedoch nichts dagegen, digitale Datenströme ,,Schrift`` zu nennen, wenn Schrift allgemein als codierte Symbole definiert wird, die im Unterschied zum Symbol als Abstraktum nur in Verbindung mit einem physischen Träger existieren. In ihrem Aufsatz ,,Schrift in Bewegung - Eine semiotische Analyse der digitalen Schrift`` argumentiert die Medienwissenschaftlerin Gabriele Gramelsberger:

,,Das Erzeugungsprinzip von Zeichen und Zeichensystemen mit Computern hingegen ist [...] verschieden. Während im Falle der skriptographischen und typographischen Implementierung die Speicherung und die Präsentation der Zeichen zusammenfallen, sind beide im elektronischen Medium des Computers voneinander getrennt. Oder anders gesprochen: Die Grapheme werden nur noch für die Präsentation genutzt, nicht mehr zu ihrer Speicherung und Generierung auf Maschinenebene.``4

Es handelt sich also um eine Wahrnehmbarkeit zweiter Ordnung, in der die Schrift erst durch Hilfsmittel bzw., sofern es sich um digitale Schrift handelt, Transkodierung auf eine (arbiträre) Präsentationsebene lesbar wird. Dennoch handelt es sich um Schrift, da auch im Computer Symbole nur physisch existieren, als Elektronen in einem Chip, magnetische Impulse einer Festplatte, oder optische Einkerbungen einer CD-ROM. Diese Schrift ist ähnlich lesbar oder unlesbar wie zum Beispiel Robert Walsers Mikrogramme oder kryptographierte und steganographierte Schriften, so daß jene Wahrnehmbarkeit auf Umwegen, die Gramelsberger an digitaler Schrift beobachtet, sich weder auf den Computer beschränkt, noch ein historisch neues Phänomen ist.

Ich komme zum Ende eines simplen Plädoyers dafür, die Materialität der Schrift nicht auf ihre Bildlichkeit zu reduzieren, einen Saussureschen Phonozentrismus nicht durch einen Grapho- oder Ikonozentrismus zu ersetzen und statt von ,,Sichtbarkeit`` lieber allgemein von ,,Wahrnehmbarkeit`` (oder Materialästhetik) der Schrift zu sprechen. Schrift kann einerseits technisch definiert werden als codierte Symbole, die eine Verbindung mit einem beliebigen physischen Träger eingehen und sich deshalb nicht der Codierung erschöpfen, andererseits ästhetisch als Symbole, die sinnlich, aber nicht zwingenderweise visuell wahrgenommen werden. Das Widerständige der Schrift gegen ihre ,,restlose Einspeisung in Programme des Codierens und Decodierens``, um noch einmal das Exposé der Konferenz zu zitieren, begründet sich somit nicht in Schriftbildlichkeit im Speziellen, sondern allgemein in den jeweiligen Eigenheiten des physischen Trägers der Schrift, die bei der Transkodierung der rein alphabetischen Information verloren gehen: Musikalität (z.B. eines hypothetischen Morse-Gedichts), Visualität (eines Figurengedichts), Haptik (eines Buchs oder Schriftobjekts), in anderen Worten: der jeder Schrift anhaftenden analogen und nicht digitalen Information.

Literatur

[Bor94]
Jorge Luis Borges. Fiktionen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 1994.
[Fou88]
Michel Foucault. Das unendliche Sprechen. In Schriften zur Literatur, Fischer Wissenschaft, pages 90-103. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 1988.

Fußnoten

1vgl. [Fou88]

2[Bor94], S. 77-92

3[Bibl. Angabe nachtragen]

4[Bibliogr. Angabe nachtragen]


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