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Sodom Blogging: "Alternative Porn" und ästhetische Empfindsamkeit

Florian Cramer

Der Widerspruch fast aller Pornographie ist ihre Zerstörung des Obszönen. Wie das Schöne für den Klassizismus, das Erhabene für die Schauerromantik und das Häßliche fürs Groteske, ist das Obszöne ästhetisches Register des Pornos, seine Aura und sein selling point. Sade erfindet die moderne Pornographie an einer historischen Schwelle von regelpoetischer poeisis und empfindsamer aisthesis in den Kunstlehren. Die "120 jours de Sodome" illustrieren genau diesen clash of cultures: Eine Täterriege alter Aristokraten, die ihre Orgien regelpoetisch kombinieren und choreographieren, eine Opferriege junger Bürgerkinder, deren Empfindungen die Ausschweifung als Perversion erst sichtbar macht, und als Resultat eine wechselseitige Eskalation von poiesis und aisthesis, Konstruktion und Empfindung, Maschine und Körper. Vollständig entwickelt sind hier bereits Konzeptualismus und Performance als widerstrebend-komplementäre Pole moderner Kunst, wiederaufgenommen wird ihre pornographisch-maschinelle Verkopplung in Duchamps "Großem Glas" und Schwitters "Merzbau", großbürgerlicher Sexmaschinenkonstruktionen und kleinbürgerlich-empfindsamer "Kathedrale des erotischen Elends".
Daß die pornographische Logik des obszönen Tabus sich nirgends konsequenter aufhebt als in Pornographie selbst, zeigen beispielhaft die Performances von Annie Sprinkle. Als Darstellerin in Siebziger-Jahre-Mainstream-Pornos, die Aktionskünstlerin und "Alternative Porn"-Pionierin wurde, überschreitet sie nicht nur Genre-Grenzen, sondern stellt auch klassische heterosexuell-pornographische Bildkultur auf den Kopf. Mit ihrer rituellen Einladung ans Publikum, ihr per Spekulum in die Vagina zu blicken, schließt Sprinkle die ikonographische Tradition von Courbets "L'Origine du Monde" (1886) und Duchamps "Étant donnés" (posthum 1968) ab, entschärft dabei jedoch den vormals geilen Blick und treibt, als Aufklärerin im zweifachen Sinn, dem Anblick Tabu und sexuelles Mysterium aus. Wenn die Schriftstellerin Kirsten Fuchs von obszöner "Wucht der Sprache" spricht und ,,in einem Wort wie ,Fotze` [...] viel Kraft" entdeckt,1 so benennt sie nicht nur das Tabu von Indie-Porno-Diskursen, die diese Wucht entschärfen, sondern auch das Scheitern industrieller Pornographie, sie zu reproduzieren. Sade, dessen systematisch konstruierten Eskalationen so abstumpfen wie jede Mainstream-Pornographie, versucht, das Tabu zu retten, indem er den Exzeß bis zur rituellen Tötung treibt, eine im Kern romantisch-sentimentalische Denkfigur, die in den "urban legends" der Performancekunst-Selbstmorde Rudolf Schwarzkoglers und John Fares fortgeschrieben wird und die Genesis P. Orridges im Wettlauf gegen den Zeitgeist stets weitergetriebenen Körpermodifikation auch physisch vollzieht.
Die "Exploitation" der Pornozuschauer besteht darin, ihnen Obszönität falsch zu versprechen, oder - wie der Gonzo-Porno seit John Staglianos "Buttman"-Serie - sie durch aggressive Penetration und Ausstülpung von Körpern zu simulieren.2 Genau darin treffen sich jedoch Mainstream- und Independent-Pornographie, Porno-Business und -Aktivismus: Sprinkles Performances sind Gonzo mit feministischem "Empowerment", der die Ausgestülpte wieder zum Subjekt macht. Und jene Independent-Pornographie, die sich seit kurzem und vor allem im Internet als Genre etabliert hat und durch sexuell explizite Autorenfilme wie "9 Songs" und "Shortbus" flankiert wird, kann auch deshalb ohne schlechtes Gewissen diskutiert werden, weil sie "guten" Sex ohne Obszönität darstellt. So löst sich, nach Unterbrechungen durch die feministische Anti-Porno-Debatte der 1980er Jahren, Peter Gorsens Befund einer neovitalistischen Tendenz in zeitgenössischen Sexualästhetiken ein, die das Programm der Lebensreform- und Freikörperbewegung vollenden.3
Damit verschwimmen auch die Grenzen pornographischer Ausbeutung subkulturell-experimentalkünstlerischer Codes einerseits sowie subkultureller Aneignung pornographischer Codes anderereseits. Die australische Pornoholding gmbill.com betreibt mit dem "Project ISM" auf ishotmyself.com eine Website als simuliertes Konzeptkunstprojekt von Frauen, die sich selbst fotographieren, und mit beautifulagony.com eine - erotisch durchaus gelungene - Website mit Videos, die allein Großaufnahmen der Gesichter von Männern und Frauen bei Sex und Orgasmus zeigen und somit das Konzept von Andy Warhols "Blow Job"-Film serialisieren, in rekursiver Anwendung von Warhols Ästhetik auf sich selbst. Scheinbar fließend gehen Milieus, Rollen und Interessen von Kunst und Kommerz, Künstlern und Sexarbeitern, Sexindustrie und Kulturkritik ineinander über: Fotomodelle und Sexperformerinnen auf suicidegirls.com oder abbywinters.com diskutieren über feministische Literaturseminare, die Künstlerin Dahlia Schweitzer ist zugleich Electropunk-Sängerin, Buchautorin, ex-Callgirl, Fotokünstlerin und eigenes Aktmodell mit College-Abschluß in women studies, während umgekehrt sich die Geisteswissenschaften in Gestalt von "porn studies" und den jüngsten "Netporn"- und "post porn politics"-Konferenzen dem Gebiet in teilnehmender Beobachtung annähern.
Dies geschieht um den Preis der Konfliktvermeidung. Ob als Provokation, Ausdruck der Macht des Sex oder von Geschlechterpolitik - es war das nunmehr liquidierte Obszöne, das die Schnittpunkte experimenteller Künste und gewerblicher Pornographie markierte, bei Courbet und Duchamp, in Batailles Romanen, Hans Bellmers Puppen, dem Wiener Aktionismus, Carolee Schneemanns "Meat Joy", aber auch bei später zu Kunstehren gekommenen Pornographen wie den Fotografen Nobyushi Araki und Irving Klaw, dem Fetish-Comiczeichner Eric Stanton und den Sexploitation-Filmern Russ Meyer, Doris Wishman, (dem von Aïda Ruilova auf der letzten Berlin-Biennale gewürdigten) Jean Rollin und Jess Franco.4 Obszön in diesen Konstellationen sind Fetische, die zu Tauschobjekten zwischen Porno- und Undergroundkultur werden. In seinen Überblendungen von Biker-, lederschwuler S/M-Kultur, Satanismus und faschistischer Ikonographie spielt Kenneth Angers Experimentalfilm "Scorpio Rising" 1964 diese Tauschgeschäfte beispielhaft durch. Zurück in Jugendkulturen kopieren sie ein Jahrzehnt später Genesis P'Orridges und Cosey Fanny Tutti's pornographische Performancegruppe COUM Transmissions, aus der die Band Throbbing Gristle und die Industrial Music hervorgeht, sowie die Punk-Mode, die Vivienne Westwood in ihrer Londoner Boutique "SEX" aus Bondage- und Fetisch-Accessoires collagiert.
McLarens und Westwoods Punk ist negativ gewendete bürgerliche Empfindsamkeitskultur, die die Register des Häßlichen, des Ekels und des Obszönen gegen das Schöne ästhetisch in Stellung bringt. Um so weniger verwundert es, daß er in seiner späteren, nicht minder bürgerlichen Mutation zur Autonomenkultur besetzter Häuser, Wagenburgen und Kulturzentren nunmehr ein anderes, "alternatives" Schönes für sich reklamierte. In derselben Logik wandeln sich, von den Sexbühnenshows der frühen Hardcore-Punkband Plasmatics mit der Frontfrau Wendy O. Williams, einer ex-Stripperin und Pornodarstellerin und später der Punk-/Metal-Frauenband Rockbitch bis zum vermeintlich punkkulturellen "Indie Porn" im Internet, die Konnotationen der Fetische vom Obszönen zum Anti-Obszönen. Spezialisierte Pornowebsites etablieren in den 1990er Jahren "Gothic Porn" als Genre, mit ansonsten konventionellen Pornobildern und -videos von Frauen im Dark Wave-Look. Aus ihrem Umfeld geht 2001 "Suicide Girls" hervor, die erste erfolgreiche kommerzielle Indie Porn-Website.5
Doch im linksradikalen Alternativgewand verleugnete Punk seine fetischistischen Wurzeln, oder zeigte vielmehr seine Kehrseite, die Spike Lees Film "Summer of Sam" bereits für die späten 1970er Jahre mit ihrer Konkurrenz von Punk und Disco nachzeichnet und in der die Punkkultur - männlich, weiß und heterosexuell dominiert - ihre Ressentiments gegenüber der polysexuellen, schwul geprägten und multiethnischen Discokultur pflegte. Der abschätzige Refrain "Samstag Nacht, Discozeit / Girls Girls Girls zum Ficken bereit" der deutschen Polit-Punkband Slime drückte 1981 eine Haltung aus, die sich sechs Jahre später und auf dem Höhepunkt der feministischen "PorNo"-Kampagne im Berliner Eiszeit-Kino gewalttätig entlud, als ein autonomes Rollkommando eine Vorführung von Richard Kerns und Lydia Lunchs Underground-Pornofilm "Fingered" stürmte. Selbst heute noch arbeiten sich Pornographie-Diskussionen an diesem Konflikt ab, wenn auch weniger ausdrücklich. Proklamationen alternativer pornographischer Kultur und Imagination sind immer auch, und nach wie vor, Stellungnahmen gegen Anti-Porno-Feminismus. Und neben kommerziellen Gothic Porno-Seiten hat die Indie-Pornographie ihre Ursprünge in jenem "sex-positive feminism", der von Susie Bright, Diana Cage und anderen als Gegenbewegung zur PorNo-Kampagne Andrea Dworkins, Catharine MacKinnons und, hierzulande, Alice Schwarzers gegründet wurde und der zum Beispiel in der lesbischen Zeitschrift "On Our Backs", im Jahrbuch "Das heimliche Auge" des deutschen konkursbuch-Verlags und auf der Website Nerve.com eine feministisch reflektierte, "andere" Pornographie nicht nur diskutierte, sondern auch praktisch schuf.
Beide feministischen Tendenzen, Anti- und Pro-Porno, unterscheiden sich zwar in ihrer Therapie, nicht aber in der Diagnose, daß Mainstream-Pornographie sexistisch und abstoßend sei.6 Übersehen wird dabei vor allem in Europa, daß Dworkin und MacKinnon mitnichten Verbot oder Zensur von Pornographie forderten.7 Vielmehr würdigt ihre Kampagne die Macht des Sex und der obszönen Imagination - jene Macht, die in praktisch sämtlichen Varianten alternativer Pornographie zum folgenlosen Spiel verharmlost, rationalisiert und verdrängt wird. An die Stelle einer Rhetorik des Künstlichen in der klassischen Mainstream-Pornographie - künstlicher Körperteile, steriler Studios, hölzernem Schauspiel - tritt in der Indie-Pornographie eine Rhetorik des Authentischen: Statt maskenhafter Normierung von Körpern durch Makeup, Perücken und Implantate wird die authentische Person bloßgestellt und, im Vergleich zum Gonzo, nicht mehr physisch, sondern psychisch ausgestülpt. Indie-Porno-Websites, wie sie die Seite www.indienudes.com umfassend verlinkt, emulieren nicht mehr die Cover-Ästhetik von Pornovideos und -heften, sondern haben auf ein Standardformat von Tagebüchern, Blogs und Diskussionsforen umgestellt, auf dem Nutzer mit Fotomodellen und Fotomodelle untereinander kommunizieren, in einem rationalisierten Diskurs vermeintlichen gegenseitigen Respekts bei simultaner totaler "authentischen" Zurschaustellung der privaten Person, in genau jener Logik, die Foucault für die Entwicklung des Strafvollzugs von der physischen Verstümmelung bis zum Psychoterror des modernen panoptischen Gefängnis nachzeichnet.
In dieser Personalisierung und Psychologisierung vollzieht Indie-Porno den nächsten logischen Schritt einer fortschreitenden Demaskierung pornographischer Akteure, der mit der (im Film "Boogie Nights" episch nacherzählten) Umstellung von 35mm-Pornokinofilmen auf billiges Video in den 1980er Jahren begann, sich im Gonzo-Analporno fortsetzte und in der Internet-Pornographie kulminiert. Der Gonzo-Porno ist insofern sogar subversiver und transgressiver als Indie-Pornographie, als er schwules Begehren im heterosexuellen Mainstream unterschwellig bedient und etabliert: analer Barebacker-Sex, drag queen-artig gestylte Frauen und - im Gegensatz zu den meisten Pornos der 1970er und 1980er Jahre - offensiv sexualisierte männliche Stars wie Rocco Siffredi im Fokus der Kamera. Was im Gonzo als radikale poiesis und proletkulturelle "Jackass"-Körperperformance inszeniert wird, wandelt sich im Indie-Porno zur empfindsamen Beichte mit dem zahlenden Publikum als voyeuristischen Beichtvätern, bei ständiger Vergewisserung bürgerlicher Normalität und, unabhängig vom Härtegrad, spielerischer Harmlosigkeit des gezeigten Sex.
So, wie Indie-Pop nur eine Scheinalternative zum musikindustriellen Mainstream ist und in Wahrheit auf demselben Geschäftsmodell basiert, das durch immer absurdere Urheberrechtsgesetze, Verhinderungstechnik, Abmahnungen und Hausdurchsuchungen abgesichert wird, ist auch Indie-Porno mitnichten "unabhängig", sondern kommerzialisiert und von freien Kanälen abgeschottet, ja sogar strategisch gegen diese positioniert: Gerade weil Mainstreamware problemlos in Peer-to-Peer-Tauschbörsen zu haben ist, wird Pornographie, wie Popmusik, nur noch durch Differenz verkaufbar, einschließlich jener zu sich selbst.

Fußnoten

1"Sex ist das Spiel der Erwachsenen", Interview im "Tagesspiegel" vom 2.7.2006
2Vgl. Mark Terkessidis, Wie weit kannst du gehen?, die tageszeitung, 18.8.2006
3Peter Gorsen, Sexualästhetik, Reinbek 1987, S. 481ff.
4Porno und Kunst verschmelzen bei Otto Muehl, dessen formalhaft sexistisch-voyeuristischen Materialaktionen einerseits Logik und Bildsprache des Mainstream- und Scat-Fetischpornos vorwegnahmen und der andererseits an den Sexploitation-Filmen "Schamlos" (1968) und "Wunderland der Liebe - Der große deutsche Sexreport" (1970) mitwirkte; einen ähnlichen Weg beschritt 1981 der Schlagersänger und spätere Sexguru Christian Anders mit seinem Film "Die Todesgöttin des Liebescamps".
5Weniger bekannt ist, daß der "Hustler"-Verleger Larry Flynt mit "Rage" bereits 1997 ein Pornomagazin im "Alternative Pop"-Stil in Fotos, Typographie und Texten auf den Markt gebracht, aber kurz darauf wieder eingestellt hatte. Heute arbeitet Joanna Angel, Betreiberin der Indieporno-Website burningangel.com, für Flynts "Hustler Video".
6Oder sie schließen sich, wie Cathérine Breillats Filme, zur Synthese kurz, daß Sexualität zwar per se sexistisch sei, daraus jedoch abgründiger Lustgewinn erzielt werden könne.
7Siehe dazu Barbara Vinkens Vorwort zu Drucilla Cornell, Die Versuchung der Pornographie, Frankfurt/M. 1997